< am Ende ein Leit- und kein Textbild >







warum hat meine Mutter mir sonntags
meinen Knigge nicht vorgelesen




[…]
8.

Nun noch ein Wort zur Warnung fuͤr den Juͤngling, in Betracht der Kuͤnſtler, beſonders der Schauſpieler, von gemeiner Art! Ich habe vorhin geſagt, daß der vertrauete Umgang mit den Mehrſten derſelben, von Seiten ihrer Kenntniſſe, ihres ſitlichen Lebens und ihrer oͤkonomiſchen Umſtaͤnde, fuͤr Kopf, Herz und Geldbeutel nicht ſehr vortheilhaft ſeyn koͤnne; allein noch in andern Ruͤckſichten muß ich Vorſicht empfehlen. Wenn man aber weiß, welch ein warmer Verehrer der ſchoͤnen Kuͤnſte ich ſelbſt bin; ſo wird man mir wohl nicht Schuld geben, daß es aus Vorurtheil oder Kaͤlte geſchehe, wenn ich dem Juͤnglinge rathe, maͤßig im Genuſſe der ſchoͤnen Kuͤnſte, maͤßig im Genuſſe des Umgangs mit der gefaͤlligen Muſen und deren Prieſtern zu ſeyn. Muſic, Poeſie, Schauſpielkunſt, Tanz und Malerey wuͤrken freylich wohlthaͤtig auf das Herz. Sie machen es weich und empfaͤnglich fuͤr manche edle Gefuͤhle; ſie erheben und bereichern die Phantaſie, ſchaͤrfen den Witz, erwecken Froͤhlichkeit und Laune, mildern die Sitten, und befoͤrdern die geſelligen Tugenden. Allein eben dieſe herrlichen Wuͤrkungen koͤnnen, wenn ſie uͤbertrieben werden, mannigfaltiges Elend veranlaſſen. Ein zu weiches, weibiſches, von allen wahren und eingebildeten, eigenen und fremden Leiden in Aufruhr zu bringendes Gemuͤth iſt wahrlich ein trauriges Geſchenk; ein Herz, das, empfaͤnglich fuͤr jeden Eindruck, wie ein Rohr von mannigfaltigen Leidenſchaften hin und her zu bewegen, jeden Augenblick von andern, ſich durchkreuzenden Empfindungen hingeriſſen wird; ein Nerven-Syſtem, auf welchem jeder Betruͤger, der nur den rechten Ton zu treffen weiß, nach Gefallen ſpielen kann — das alles wird uns ſehr zur Laſt, da, wo es auf Feſtigkeit, unerſchuͤtterlichen maͤnnlichen Muth, auf Ausdauern und Beharrlichkeit ankoͤmmt. Eine zu warme, zu hochfliegende Phantaſie, die allen unſern geiſtigen Anſtrengungen einen romanhaften Schwung giebt, und uns in eine Ideen-Welt verſetzt, kann uns in der wuͤrklichen Welt theils ſehr ungluͤcklich, theils zu gaͤnzlich unbrauchbaren Menſchen machen. Sie ſpannt uns zu Erwartungen, erregt Forderungen, die wir nicht befriedigen koͤnnen, und erfuͤllt uns mit Eckel gegen alles, was den Idealen nicht entſpricht, nach welchen wir in der Bezauberung, wie nach Schatten greifen. Ein luxurioſer Witz, eine ſchalkhafte Laune, die nicht unter der Vormundſchaft einer keuſchen Vernunft ſtehen, koͤnnen nicht nur leicht auf Unkoſten des Herzens ausarten, ſondern wuͤrdigen uns auch herab, verleiten zu Spielwerken, ſo daß wir, ſtatt der hoͤhern Weisheit und nuͤchternen Wahrheit nachzuſtreben und unſre Denkkraft auf wahrhaftig nuͤtzliche Gegenſtaͤnde zu verwenden, nur den Genuß des Augenblicks ſuchen, und ſtatt, mitten durch die Vorurtheile hindurch, in das Weſen der Dinge einzudringen, uns bey den glaͤnzenden Auſſenſeiten verweilen. Froͤhlichkeit kann in Zuͤgelloſigkeit, in Streben nach immerwaͤhrenden Taumel uͤbergehn. Milde Sitten verwandeln ſich nicht ſelten in Weichlichkeit, in uͤbertriebene Geſchmeidigkeit, in niedre, unverantwortliche Gefaͤlligkeit, die alles Gepraͤge von maͤnnlichem Character abſchleifen, und ein Leben, das blos den geſelligen Freuden und dem ſinnlichen Vergnuͤgen gewidmet iſt, leitet uns fern von allen ernſthaften Geſchaͤften, bey welchen der ſpaͤtere, aber ſichere, dauerndere Genuß durch Ueberwindung von Schwierigkeiten und durch anhaltende Arbeit und Anſtrengung erkauft werden muß; Es macht uns die fuͤr Geiſt und Herz ſo wohlthaͤtige Einſamkeit unertraͤglich, macht uns ein ſtilles haͤusliches, den Familien- und buͤrgerlichen Pflichten gewidmetes Daſeyn unſchmackhaft — Mit Einem Worte! wer ſich gaͤnzlich den ſchoͤnen Kuͤnſten widmet, und mit den Prieſtern ihrer Gottheiten ſein ganzes Leben verſchwelgt, der wagt es darauf, ſein eigenes dauerhaftes Wohl zu verſcherzen, und wenigſtens nicht ſo viel zur Gluͤckſeligkeit Andrer beyzutragen, als er nach ſeinem Berufe und nach ſeinen Faͤhigkeiten vermoͤgte. Alles, was ich hier geſagt habe, trifft vorzuͤglich bey dem Theater und bey dem Umgange mit Schauſpielern ein. Wenn unſre Schauſpiele das waͤren, wofuͤr wir ſie ſo gern ausgeben moͤgten; wenn ſie eine Schule der Sitten waͤren, wo uns auf eine gefaͤllige und zweckmaͤßige Weiſe unſre Verirrungen und Thorheiten dargeſtellt und an das Herz gelegt wuͤrden, ja! dann koͤnnte es immer recht gut ſeyn, oft die Buͤhne zu beſuchen, und den Umgang mit Maͤnnern zu waͤhlen, welche man als Wohlthaͤter ihres Zeitalters anſehn muͤſſte. Man darf aber nicht das Theater nach demjenigen beurtheilen, was es ſeyn koͤnnte, ſondern nach dem, was es iſt. Wenn in unſern Luſtſpielen die comiſchen Zuͤge der Narrheiten der Menſchen ſo uͤbertrieben geſchildert ſind, daß niemand das Bild ſeiner eigenen Schwachheiten darinn erkennt; wenn romanhafte Liebe darinn beguͤnſtigt wird; wenn junge Phantaſten und verliebte Maͤdgen daraus lernen, wie man die alten vernuͤnftigen Vaͤter und Muͤtter, die zur ehelichen Gluͤckſeligkeit mehr als eingebildete Sympathie und vor uͤbergehenden Liebes-Rauſch fordern, betruͤgen und zu ihrer Einwilligung bewegen muß; wenn in unſern Schauſpielen Leichtſinn im gefaͤlligen Gewande erſcheint, eminentes Laſter in Glanz und Hoheit auftritt, und, durch einen Anſtrich von Groͤße und Kraft, wieder Willen Bewunderung erzwingt; wenn im Trauerſpiele unſer Auge mit dem Anblicke der aͤrgſten Greuel vertrauet; wenn unſre Einbildungskraft an Erwartung wunderbarer, feenmaͤßiger Entwicklungen und Aufloͤſungen gewoͤhnt wird; wenn man uns in den Opern dahin bringt, daß es uns gleichguͤltig iſt, ob die geſunde Vernunft empoͤrt wird, in ſo fern nur die Ohren gekitzelt werden; wenn der elendeſte Grimaſſen-Schneider, die ungeſchickteſte Dirne, wenn ſie Anhang unter dem Volke haben, allgemeine Bewunderung einerndten; wenn endlich, um alle dieſe nichtigen Zwecke zu erlangen, unſre Theater-Dichter ſich uͤber Wahrſcheinlichkeit, aͤchte Natur, weiſe Kunſt und Anordnung hinaus, folglich den Zuſchauer in den Fall ſetzen, im Schauſpielhauſe keine Nahrung fuͤr den Geiſt, ſondern nur Zeitverkuͤrzung und ſinnlichen Genuß zu ſuchen — Wer wird ſich's da nicht zur Pflicht machen, Juͤnglingen und Maͤdgen den ſparſamſten Genuß dieſer Vergnuͤgungen zu empfehlen? Und nun, was die Schauſpieler betrifft! Ihr Stand hat ſehr viel blendendes; Freyheit; Unabhaͤngigkeit von dem Zwange des buͤrgerlichen Lebens; gute Bezahlung; Beyfall; Vorliebe des Publicums; Gelegenheit da einem ganzen Volke oͤffentlich Talente zu zeigen, die auſſerdem vielleicht verſteckt geblieben waͤren; Schmeicheley; gute, gaſtfreundſchaftliche Aufnahme von jungen Leuten und Liebhabern der Kunſt; viel Muſſe; Gelegenheit, Staͤdte und Menſchen kennen zu lernen — Das alles kann manchen Juͤngling, der mit einer unangenehmen Lage, oder mit einem unruhigen Gemuͤthe, mit uͤbel geordneter Thaͤtigkeit kaͤmpft, bewegen, dieſen Stand zu waͤhlen, beſonders, wenn er in vertraueten Umgang mit Schauſpielern und Schauſpielerinnen geraͤth. Aber nun die Sache naͤher betrachtet! Was fuͤr Menſchen ſind gewoͤhnlich dieſe Theater-Helden und Heldinnen? Leute, ohne Sitten, ohne Erziehung, ohne Grundſaͤtze, ohne Kenntniſſe; Abentheurer; Leute aus den niedrigſten Staͤnden; freche Buhlerinnen — Mit Dieſen lebt man, wenn man ſich demſelben Stande gewidmet hat, in taͤglicher Gemeinſchaft. Es iſt ſchwer, da nicht mit dem Strohme fortgeriſſen zu werden, nicht zu Grunde zu gehn. Neid, Feindſchaft und Cabale erhalten immerwaͤhren den Zwiſt unter ihnen; Dieſe Menſchen ſind nicht an den Staat geknuͤpft, folglich faͤllt bey ihnen ein großer Bewegungsgrund, gut zu ſeyn, die Ruͤckſicht auf ihren Ruf unter den Mitbuͤrgern, weg. Koͤmmt noch etwa die Verachtung, mit welcher, freylich unbilliger Weiſe, manche ernſthafte Leute auf ſie herabſehn, hinzu; ſo wird das Herz erbittert und ſchlecht. Die taͤgliche Abwechſelung von Rollen benimt dem Character die Eigenheit; Man wird zuletzt aus Habituͤde, was man ſo oft vorſtellen muß; Man darf dabey nicht Ruͤckſicht auf ſeine Gemuͤths-Stimmung nehmen, muß oft den Spaßmacher ſpielen, wenn das Herz trauert, und umgekehrt; Dies leitet zur Verſtellung; Das Publicum wird des Mannes und ſeines Spiels uͤberdruͤſſig; Seine Manier gefaͤllt nicht mehr nach zehn Jahren; Das ſo leichtfertiger Weiſe gewonnene Geld geht eben ſo leichtfertig wieder fort — und ſo iſt denn ein armſeliges, duͤrftiges, kraͤnkliches Alter nicht ſelten der letzte Auftritt des Schauſpieler-Lebens.
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(Knigge, Adolph von: Ueber den Umgang mit Menschen. Bd. 2. Hannover, 1788, Seiten 87-94)